Vom Menschenrecht zur Biopolitik
"Die Menschen werden frei und gleich an Würde und Rechten geboren..." heißt es in einem
Text, der manchmal das Papier nicht wert zu sein scheint, auf dem er geschrieben steht. Aber dennoch: Das waren selige Zeiten, als Menschen noch Rechte angeboren waren. Heute - in Zeiten, in denen die Biowissenschaften, die einst ein kärgliches Dasein am ungenauen Ende der so genannten "exakten" Naturwissenschaften gefristet haben, sich zu Leitwissenschaften mauserten - sind den Menschen vielmehr Gendefekte oder Frontallappenverformungen angeboren. Diese unterstellen ihnen eine Neigung zu "sozial auffälligem", "regelwidrigem" oder "gewalttätigem" Verhalten. Wenn es hier um Rechte geht, dann höchstens darum, dass "gesunde" Bürger_innen ihr Recht einfordern, vom Staat vor der Gefahr geschützt zu werden, die von ihren Mitbürger_innen ausgehen soll. Aber noch viel mehr wird aus einem Recht auf körperliche Unversehrtheit eine Pflicht zu gesunder Lebensführung gemacht.
"Lebenswissenschaft" ist inzwischen zu einem Schlagwort geworden für eine beispiellose (wissenschafts-) politische Kampagne, in der es nicht nur um die Verteilung von Forschungsgeldern geht. Die Disziplinen, die sich unter diesem Namen zusammengeschlossen haben - am prominentesten unter ihnen die Genetik und die Hirnforschung - behaupten nicht nur ihre wissenschaftliche Wichtigkeit,
sondern vor allem ihre gesellschaftliche Notwendigkeit. Sie dienen sich als technokratische Lösungsstrategien für gesellschaftliche Probleme an.
Dafür propagieren sie ein Menschenbild, das einen völlig neuen Zugriff sowohl auf Individuen, als auch auf ganze Bevölkerungen ermöglichen soll. Mit Aussagen wie "Nicht ich entscheide, sondern mein Gehirn!" (die übrigens ungefähr so viel Sinn machen wie "Nicht ich rauche, sondern meine Lunge!") wird die Ideologie des freien Willens abgelöst durch die nicht minder ideologische Verortung der Ursachen menschlichen Verhaltens in einem biologischen Substrat, auf das dementsprechend nur noch (bio-) technisch eingewirkt werden muss. Wir sind Zeug_innen einer weiteren "Humanisierung" des Umgangs mit abweichendem Verhalten. Denn dort wo einst Strafe, Disziplinierung und Kontrolle herrschten, wachen jetzt auch Diagnose, Therapie und eine Gesundheitskontrolle über uns, die sich in dem reinen Gewissen sonnen können, ja nur kranken Menschen helfen zu wollen (vgl. den Vortrag von Wolfgang Linder zur
Gesundheitskarte).
Die tatsächliche Verschärfung des Zugriffs auf den_die Einzelne_n lässt sich vor allem in den neueröffneten Möglichkeiten zur "Prävention" erkennen. Die Bestimmung der einzugrenzenden "Risiken" fängt schon vor der Geburt an, die Pränataldiagnostik verspricht Wahrscheinlichkeiten von Erbkrankheiten zu erkennen. Auch die inzwischen fest etablierte Fruchtwasseruntersuchung legt die frühzeitige Selektion nahe. Eltern, (genauer: Frauen), die sich diesem "Qualitätsmanagement" entziehen, handeln "unverantwortlich" (vgl. den Vortrag von Susanne Schultz über
die Kategorie Geschlecht in der Biopolitik). Auf der Ebene der Bevölkerungssteuerung taucht die Demographie als gesamtgesellschaftliche "Risikoanalyse" wieder auf. Die Geburtenrate soll gesteigert werden, aber möglichst nur von gut Ausgebildeten, denn die Kinder der "Unterschicht" sind bezüglich ihres Nutzens für die Gesellschaft statistisch schon abgeschrieben (vgl. den Vortrag von Jörg Nowak zur
neuen Familienpolitik).
Ist das vorselektierte Kind erstmal geboren, müssen die Keime des Bösen sofort überwacht werden. So fordern bereits einige Neurophysiolog_innen, dass Kinder, bei denen ein bestimmter angeborener Frontallappendefekt festgestellt wurde, unter besondere staatlich Beobachtung gestellt werden sollten. Bei ihnen könne ein höheres Risiko der Straffälligkeit angenommen werden (vgl. den Vortrag von Stefan Krauth und Tobias Singelnstein über
biologische Prävention im Strafrecht). Da mit einer medizinischen Risiko-Diagnose Zugriffe legitimiert werden können, wie es mit einer juristischen oder sozialen niemals möglich wäre, werden immer wieder neue "Krankheitsbilder" entworfen, die sozial unerwünschtes Verhalten medizinisch pathologisieren (vgl. den Vortrag über
ADHS), bzw. deren "Therapie" eine gesteigerte Anpassung an die Anforderungen des (neoliberalen) Kapitalismus versprechen (vgl. den Vortrag von Ingar Abels über
Depression).
Hat die "Prävention" trotz aller Vorsichtsmaßnahmen versagt, bekommen wir von der Judikative einen weiteren (therapeutischen) Zugriff auf die Lebensführung verordnet: Die Fußfessel (vgl. den
Vortrag von Sven Bergmann).
Ein weiteres Beispiel für den Einsatz des "lebenswissenschaftlichen" Instrumentariums sind die Diskurse um Seuchen - aktuell gut zu beobachten an der so genannten Schweinegrippe oder auch mexikanischen Grippe: Krankheiten, die selbstverständlich immer von "außen" kommen, und so die "eigene" Bevölkerung bedrohen. Nicht nur in diesem Fall wird "das Fremde" notwendigerweise als potentiell Krankes betrachtet, dessen Migration verhindert werden muss (vgl. den Vortrag des ak medizinkritik über
die politische Logik der Infektion).
Wie wir finden, alles gute Gründe, sich die so genannten Lebenswissenschaften genauer anzugucken...
Gesundheit und ein langes Leben wünscht die [SaU].
=>nach oben <=